Donnerstag, 5. Mai 2016

Seelische Störungen bei Parkinson nicht unbehandelt lassen

Schon erkennbare Übergriffe aus den Quellen des Unbewussten in den Alltag des Parkinson-Patienten, wie z. B. aggressive, in Tätlichkeiten (Fußtritte, Stöße mit dem Ellenbogen) ausartende Träume, sind für den TCM-Mediziner Gegenstand seiner medizinischen Bewertung, ob oder ob nicht eine shen-Störung vorliegt. Auf die Idee, eine solche shen-Störung (shen = Geist) weniger ernst zu nehmen als eine Halsentzündung kommt der TCM-Arzt gar nicht. Warum?

Steigen sie hier ein in das Vokabularium der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) wie es G. Maciocia vorbildlich übersetzt und interpretiert hat
Begriffe: Giovanni Maciocia
die alternative Sichtweise, vgl. G. Maioia
shen = implizites Gedächtnis der Muskulatur bei erlernten Bewegungsmustern


Shen Disorders / Geistesstörungen / spiritual disorders

Das Vokabular der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM):

1. shen = Geist des Menschen im Sinne seiner geistigen Verbindung zur Schöpfung, zur Göttlichkeit, zur Entstehung des Weltalls.
"Geist" in diesem Sinne hat hier nichts mit Esoterik gemein. Der Begriff umfasst inhaltlich vielmehr das, was beispielsweise die Universität Hamburg unter der Fakultät Geisteswissenschaften subsumiert:
Theologie
Sprache, Literatur, Medien
Geschichte
Philosophie
Kulturgeschichte und -kunde
Asien-Afrika-Wissenschaften 
Dem hinzuzurechnen sind die Inhalte, die an der Hochschule für bildende Künste gelehrt werden, sowie die Lehrinhalte der Hochschule für Musik und Theater. 

2. qi = physischer Aspekt des Menschen,  der in dem Planeten Erde wurzelt. Qi ist die bewegende Kraft im Menschen und hat verschiedene Formen, d. h. Wirkweisen. Qi wird gebildet durch Atmen von Luft, durch Aufnahme und  Verarbeitung von Nahrung und von der innerlich kultivierten sexuellen „Essenz“ (Gameten = Keimzellen) des physischen Körpers, von jing (vgl. nachfolgende Darstellung von Nicola Schlott).
qi / jing Physiologie



3. hun =  Seele des Menschen, die nicht mit seinem Tod vergehen muss, sondern im Jenseits  auf Seelen der Vorfahren treffen kann.  Wenn solche Seelen der Toten dann als “Geister“ = „ghosts“ bezeichnet werden, dann ist dieser Wortinhalt nicht identisch mit dem Begriffsinhalt von “shen“ = „Geist des Menschen“. Dieser Teil der menschlichen Seele bzw. Psyche (hun) sorgt sich darum, dass die Persönlichkeit ihre Instinkte angemessen nutzt, aber auch kontrolliert („Unkraut jäten“).

4. po = physische Lebenskraft, physische „Tierseele“ im Menschen.  Po vergeht mit dem Tode. Dieser Teil der menschlichen Seele (po) übt die Herrschaft aus über teilweise obskure Gefühle. Po bringt Licht und Klarheit ins Dunkel der Persönlichkeit.

5. yi = menschliche Fähigkeit Unterscheidungen vorzunehmen und Entscheidungen zu begründen, zu treffen und zu planen. (yi = etwa „Intellekt“, Verstand, aber auch „Weisheit“) Yi beinhaltet auch Absichten, Standpunkte und Gedanken.

6. zhi = der Wille, eine getroffene Entscheidung durchzuführen, d. h. in die Tat umzusetzen. Zhi ist die Kraft, yi zu realisieren.

Shen, qi und jing wirken wechselseitig auf einander ein (vgl. Schaubild).
Wechselwirkung von shen, qi und jing





Shen-Störung bei morbus parkinson

Die neurologische Disposition des Menschen mit der Diagnose „morbus parkinson, idiopathischer Typ“ ist u. a. durch aufgestaute Wut (Mark Peter Hurni) gekennzeichnet.
Die auf Wut-Stau basierte psychische Disposition kann nach der Begrifflichkeit der TCM als „shen disorder“ = shen-Störung klassifiziert werden. – Für interessierte Parkinson-Patienten sind hier beispielhaft zwei allseits bekannte shen-Störungen skizziert, die jeder kurz auf ihre Relevanz für die eigene Erlebniswelt prüfen kann:

Shen-Störung; Beispiel 1
„Revanche für das Aufwecken“ oder „Rache für das Erinnert-Werden an peinliche Defizite“
Shen-Störung: Das unbewusst gebliebene, aber jetzt zwangsweise einzuräumende eigene Defizit übernimmt das Kommando über die Aktion. Der Wütende bestreitet die Relevanz der vom Mitmenschen aufgeworfenen Thematik und bringt Äußerungen hervor, die ohne Zusammenhang zum Gegenstand der Auseinandersetzung zu sein scheinen.
Muster: In flagranti erwischter Ehepartner bestraft den Zeugen seiner Untat durch  tätlichen Angriff.
Vgl. Posting vom 28. Dezember 2015 in diesem Blog, Originalzitat:
Wut und Aggression  (in: Cheryl Sanders-Sardello; Aggression, Gewalt und Kulturverfall, Dornach 1997)



Shen-Störung;  Beispiel 2
„Vorauseilende Unterstellung“ oder „vorbeugende Abstrafung“
Wütende Entrüstung über ein unterstelltes, aber phantasiertes Fehlverhalten des Mitmenschen
Muster: Löwe in freier Wildbahn greift seinen vermeintlichen Jäger an und wartet nicht ab, ob dieser sich als Streichel-Tourist entpuppt.
Eine andere große Raubkatze, der Gepard, kommt als Vorbildmuster nicht in Frage, denn ein Gepard greift Menschen nicht offensiv an...

Der Mensch mit auffälligen Einschränkungen seines Bewusstseins kann seine Mitmenschen durch Schimpf-Tiraden oder gar -Kanonaden angreifen, die bei den Betroffenen und bei unbeteiligten Mitanwesenden zunächst nur verständnisloses Kopfschütteln bewirken. Dem Mitmenschen wird grobes Fehlverhalten vorgeworfen. Keiner außer dem mit furchterregendem Gesichtsausdruck tobenden Wüterich kann erkennen, worüber dieser spricht.  Es macht wenig Sinn, den Realitätsverlust des Angreifers als Meinungsverschiedenheit abzutun, denn die vom Schimpfenden beschworenen realitätsfernen Szenarien werden progressiv irrealer. – Welcher psychologische Mechanismus wirkt hier?

Es geht um die Wechselwirkung von Reiz und Reaktion. Aus dem Dampfdrucktopf einer über Jahre angestauten Entrüstung und lange unterdrückten Wut entweicht dem Wüterich das, wovor er sich fürchtet: Er argwöhnt eine Missetat von Seiten des beschimpften Mitmenschen und wirft diesem seine eingebildete Missetat vor. Es wird – gleichsam vorsorglich - dasjenige als Missetat vorgehalten, was noch gar nicht eingetreten ist. Gerade die vorgezogene Wut- und Schimpf-Tirade kann aber erst die Reaktion des Beschimpften auslösen, die bereits  Inhalt des Vorwurfes ist – sofern dieser  beschimpfte Mitmensch nicht „höllisch“ aufpasst. D. h. nur wenn der Beschimpfte eben nicht auf die substanzlosen  Vorwürfe mit Gegenvorwürfen reagiert, stoppt das Abrutschen in das Reich des Irrealen. Es gilt, die vom Wüterich bzw. seinem Unbewussten erwartete Reaktion nicht zu zeigen.

Eine Missetat wird vorgeworfen, die noch nicht getan worden ist und womöglich nie getan werden wird. Die Absurdität dieses Szenarios wird verdeckt durch die Verblendung des Wüterichs, dessen Ängste aus seinem Unbewussten entweichen und – ohne seine bewusste Kenntnis – zur Tat, zur Anklage, schreiten. Sein Bewusstsein ist zu einer Realitätskontrolle nicht mehr fähig. Wer jetzt handelt, das ist die heimliche Sehnsucht, nämlich dem Mitmenschen beweisen zu können, dass alle Misere in der Welt des Wüterichs nicht auf sein Verschulden zurückgeht, sondern vom Mitmenschen zu verantworten ist. Nun wird alles gebogen, verbogen bis es endlich passt.

Der TCM-Mediziner konstatiert in beiden Fällen das Vorhandensein eines eingeschränkten Bewusstseins. Die näheren Umstände der jeweiligen Fälle werden beobachtet, notiert und geordnet. Je nach Art, Umfang und Intensität der relevanten Symptome wird eine Behandlungsstrategie mit  Heilkräutern, Gesprächen und Akupunktur erarbeitet.

Zunächst geht es dabei um die Einordnung einer "Verhaltensauffälligkeit" in eine der "sieben Emotionen", deren Wirkung auf das qi seit alther bekannt sind:
"Sieben Emotionen" wirken auf das qi

Wirkung der "sieben Emotionen" auf die Aktivität des qi:
    1.    Übertriebene Freude (xi) entspannt die Aktivität des qi;
    2.    Allzu großer Ärger, Zorn bzwWut treibt das qi dazu sich aufwärts zu bewegen;
    3.    übertriebene Grübelei   führt zur Stagnation des qi;
    4.    Übergroße Trauer oder Sorge erschöpfen das qi;
    5.    Angst treibt das qi abwärtss; Schock oder übergroßer Schrecken verwirrt und beeinträchtigen  das  qi;
    6.    Übergroße Sorgen und Argwohn drücken das qi nieder.


abelle 3. Ein Zuviel bestimmter Emotionen schädigt einzelne Organe.
Gefühl
Zang (Yin Organ)
Fu (gekoppeltes Yang Organ)
Freude Herz Dünndarm
Angst, Furcht Nieren Blase
Trauer, Besorgnis Lunge Dickdarm
Grübeln Milz Magen
Ärger Leber Gallenblase

z.B. die Nieren im Zusammenhang mit Angst, Furcht

z.B. die Leber und der Ärger
Im Falle der Leber ist das der Zorn. Diese Emotion versteht die chinesische Medizin im weitesten  Sinne und schließt darin auch den unterdrückten Zorn, Neid, Gefühl des Unrechts, Unruhe, Gereiztheit, Impulsivität, Trotzigkeit, Erbitterung, Gehässigkeit, Verbitterung, Frustration und Ärger ein. Von allen Emotionen wird der Ärger am einfachsten hervorgerufen, aber am wenigsten beherrscht.

Shen-Störung. Beispiel 3

Verlust der Fähigkeit
- schwankungsfrei geradeaus zu gehen,
- den Willen zum Weitergehen gegen Störfaktoren durchzusetzen und
- die Arme im Gegentakt zu den Beinen zwecks Gleichgewichtswahrung zu schwenken,

Der Verlust dieser Fähigkeit ist eine Herz-Shen-Störung, die für alle Parkinson-Patienten gilt.
Maciocia-Zitat zum Thema Herz-Shen.

"The Shen of the Heart is a form of Qi and the following is a summary of its functions:
Is the Qi that
•     Forms life (but also with Po) from the union of the Jing of the parents
•     Allows the individual to be conscious of his or her self
•     Permits the cohesion of various parts of our psyche and emotions
•     Defines us as individuals, confers sense of self
•     Feels and assesses the emotions
•     Is responsible for perceptions, feelings and senses (with Po)
•     Is responsible for thinking, memory, intelligence, wisdom, ideas
•     Determines consciousness (being conscious)
•     Allows insight and sense of Self
•     Is responsible for cognition
•     is responsible for relating, relations with others (shen = stretch, extend, project outwards)
•     Controls sleep
•     Governs the senses (sight, hearing, smelling, taste)"



Nieren-Yin-Defizit: Akupunktur von KI 1, 2, 3, 5, 6;  LU 7, 8;  SP 6;  UB 23
(Wird fortgesetzt).
implizites Gedächtnis gestört bei Parkinson; Heart-Shen Disorder; Grafik: Maciocia


Was die Akupunktur-Strategien angeht, gibt es umfangreiche Übersichten über
 pathologische Muster (wie z.B. „Leber-Wind“ oder „qi-Stau“). Auf dieser Grundlage werden die Meridiane und ihre Akupunkturpunkte bestimmt, mit deren Bearbeitung der behandelnde TCM-Arzt seine Arbeit aufnimmt. Die vorgenannten Übersichten solcher Meridian-Strategien für shen-disorders / Geistesstörungen finden sie hier. http://www.itmonline.org/shen/chap4.htm


Table 4: Points listed for each of the specified disorders in the index to A Manual of Acupuncture.

Agitation    LU-4, ST-23, ST-41, SP-1, SP-2, KI-1, KI-4, PC-4, PC-7, CV-19, plus other points for combined syndromes (e.g., with heat in the chest)
Anger    CV-14, ST-36, LU-10, KI-9, CV-8, GB-39, BL-18, KI-4, PC-8, LV-2, LV-13, KI-7, KI-1, GV-12, CV-14, HT-5
Anxiety and worry    BL-15, GB-39, KI-12, CV-12, LV-1, LV-5
Apprehension    PC-5, PC-6, PC-8
Aversion to people talking    ST-37, ST-44, GB-17, CV-15
Coma    PC-8, GV-26, CV-1
Dementia    HT-7, BL-15, KI-4
Depression    HT-5, LV-5
Epilepsy, childhood fright    LU-7, SP-5, GB-13, GV-8, GV-12, GV-21
Fear and fright    LI-13, HT-7, HT-8, ST-7, PC-6, LV-5, GV-4, CV-4, plus other points for specific types (e.g., sudden fright)
Hallucination    LI-5, LI-7, ST-40, ST-41, BL-10, BL-61, GV-12
Laughter, abnormal    PC-7, PC-8, LI-7, GV-26, ST-40, HT-7, ST-36, LU-7, LI-5, SP-5, KI-7
Loss of consciousness, stroke    LU-11, LI-1, HT-9, SI-1, KI-1, LV-1, GV-15, GV-26, CV-6, CV-8
Mad walking    ST-23, SI-5, SI-8, BL-8, BL-9, LV-13, GV-19, BL-13
Madness    BL-5, BL-9, BL-60, KI-1, KI-9, TB-10, TB-12, TB-13, GB-9 LV-2
Melancholy    PC-4, LU-3, SP-5
Memory loss    LU-7, LI-11, HT-3, HT-7, BL-15, BL-43, KI-1, KI-21, KI-3, PC-5, PC-6, GB-20, GV-11, GV-20, CV-14, M-HN-1, PC-6
Mental retardation    KI-4
Ranting and raving    KI-14, LI-7, ST-36, KI-9, TB-2, GV-12, LI-6
Sadness and weeping    LU-3, ST-36, SP-1, SP-15, HT-7, KI-6, PC-6, PC-7, PC-8, TB-10, LV-2, LU-10, HT-1, SI-7, GV-11, GV-20, HT-4, GV-16, HT-5, ST-41, HT-8, SP-7, GV-13, LU-5, BL-15, PC-9
Stroke    LI-10, LI-15, ST-36, BL-15, BL-23, BL-40, PC-6, PC-8, PC-9, GB-2, GB-13, GB-15, GB-21, GB-40, LV-2, GV-16, GV-20, CV-4, M-UE-1, M-HN-1


Definitionen von shen, hun, po usw. nach Giovanni Maciocia.
( Maciocia ist Associate Professor an der Universität für Traditionelle Chinesische Medizin in Nanjing,  PR China, und ist gegenwärtig in Santa Barbara, Ca., U.S.A., tätig.)



Keine Kommentare: